Samstag, 22. Oktober 2011

Betrachtungen über den Gefangenenaustausch am Tag danach:




Unsere Gefühle schwanken zwischen großer Freude über die freigelassenen palästinensischen Gefangenen und tiefer Trauer über die weiterhin inhaftierten Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder in israelischen Gefängnissen.
Besonders denken wir an diejenigen Gefangenen, die bis zum 18. Oktober im Hungerstreik waren, um auf die schlimmsten Schikanen in israelischen Gefängnissen aufmerksam zu machen. Nachdem sie die Rücknahme der Isolationshaft erkämpft haben, beendeten sie den Hungerstreik.


Wir danken ihnen für ihren großen Mut und auch für ihre Entscheidung, denn nichts ist schwerer für uns zu ertragen als die Gefangenen in einer  zusätzlich  lebensbedrohenden Situation zu wissen. Viele sind schon während eines Hungerstreiks in früheren Jahren gestorben.

Immer sollte unser "Nelson Mandela" freikommen, nämlich  Marwan Barghouti, den Israel für die Gewalt verantwortlich macht, die Monate nach Beginn der zweiten Intifada Ende September 2000 geschah, nachdem so viele palästinensische Kinder und Jugendliche gezielt erschossen oder schwer verletzt worden waren. Es hieß, eine Million Schuß habe die israelische Armee auf Palästinenser abgefeuert, als die zweite Intifada begonnen hat.

Israel entschied sich, Marwan Al  Barghouti und Ahmad  Saadat nicht freizulassen. Diese beiden Politiker hätten mit ihrer Politik zum Frieden beitragen können, davon sind wir überzeugt. Und das weiß auch Israel.

Haben diese Journalisten je fair über sie berichtet?

Unsere Gedanken gehen zu denjenigen, die nicht nach Hause zurückkehren durften, sondern in die Türkei, nach Syrien, Jordanien oder Katar ausgeflogen wurden. Wir danken den Ländern, die sie aufgenommen haben. Trotzdem, sie leben nicht in ihrer Heimat und anders als viele von uns, die uns unsere zweite Heimat meistens selbst auswählen  konnten, leben sie nun in einem noch stärker erzwungenen Exil.
Aber die Begrüßungsbilder gestern aus Gaza und Ramallah haben uns überwältigt. Es war eine große Freude in uns. Zum ersten Mal seit vielen Jahren dürfen wir hoffen, dass noch mehr Gefangene als die 1027 freikommen werden.
Wir sind dankbar dafür, dass vor allem Ägypten, die Türkei aber auch Deutschland dabei geholfen haben, dass dieser Gefangenenaustausch zustande gekommen ist.

Wirklich traurig, manchmal auch zornig, hat uns die Tatsache gemacht,  dass in der deutschen Berichterstattung überwiegend nur das Schicksal  des einzelnen Soldaten behandelt wurde und nur wenig über die freigelassenen Palästinenser berichtet wurde, man nannte Israels Verhalten "großzügig", "menschlich" und beschrieb die Palästinenser als "islamistische Terroristen", deren Freilassung eine zusätzliche Gefahr für Israels "Sicherheit" bedeuten könnte.

Wir würden diese Journalisten gerne fragen:

Im Goldstone-Bericht steht, dass seit dem israelischen Krieg von 1967  und damit seit der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens 700 000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen gesessen haben. 
Haben Sie das nicht gelesen? Der Bericht ist zwei Jahre alt und die Zahl seitdem noch höher!
Dass Kinder, Jugendliche, Frauen und alte Leute unschuldig in israelischen Gefängnissen gesessen haben bzw. sitzen. Ob sie das wissen?
Dass in israelischen Gefängnissen gefoltert wird, Kinder systematisch geschlagen werden, gezwungen werden, falsche Geständnisse abzulegen, indem man ihnen zusätzliche Gewalt androht.
Kinder und Jugendliche gezwungen werden, gegen ihre Familien oder Freunde zu spitzeln, indem man ihnen (auch sexuelle) Gewalt androht. Ob sie das schon einmal gehört haben?
Dass man als Palästinenser in Administrativhaft geraten kann, d.h. man sitzt im Gefängnis, hat keinen Anwalt, weiß nicht warum und wird auch nicht angeklagt, manche sitzen so jahrelang im Gefängnis.
Ob sie das gewusst haben?
3.000 Gefangene von den 6.000 oder 7.000 Palästinensern in israelischen Gefängnissen, darüber gibt es unterschiedliche Angaben, waren bis gestern im Hungerstreik wegen ihrer Haftbedingungen: Isolationshaft (deren Rücknahme sie sich wie schon gesagt jetzt erhungert haben, deshalb hörten sie auf), keine Besuche von Verwandten, manchmal über Jahre, Gespräche auch mit ihren Anwälten nur mit Hand- und Fußfesseln der Gefangenen, allgemeine Verschärfung der Haftbedingungen u.s.w.

Wer hat den Namen desjenigen gefangenen Palästinensers genannt, der
jetzt nach 34 Jahren Haft entlassen wurde? Es ist Nael Al Barghouthi.
Wer nannte die Namen der palästinensischen Minister oder Parlamentarier, die nach der Gefangennahme des Soldaten inhaftiert wurden, manche für Jahre, ebenso der Sprecher des Parlaments, der aber wieder entlassen wurde.
Doch einige Abgeordnete sind immer noch inhaftiert. Hat das diese Journalisten je interessiert? Haben sie darüber geschrieben?
Sie sollten sich fragen, ob es irgendwann in den letzten Jahrzehnten von  israelischer Seite je eine Amnestie für palästinensische Gefangene gegeben  hat -trotz 20 Jahren Verhandlungen - oder eine Freilassung? Oder die Einsicht von Unschuld von Kindern in israelischen Gefängnissen? Wie viele Israelis sind dafür bestraft worden, dass sie palästinensische Gefangene nachweislich gefoltert haben?
Die Rechtsanwältin Felicia Langer hat schon vor 40 Jahren in einem Buch über Folter an palästinensischen Gefangenen berichtet, als die israelische und internationale Öffentlichkeit dies nicht wahrhaben wollte.
Das heißt: Haben sich diese Journalisten je gefragt, ob es für Palästinenser in israelischen Gefängnissen Gerechtigkeit gibt?
Haben sie vergessen, dass Israel wegen der Gefangennahme des Soldaten 2006 einen Überfall auf Gaza machte, bei dem Hunderte Palästinenser zu Tode kamen?
Dass Israel 2006 zeitgleich einen Krieg gegen den Libanon  führte mit über 1000 Toten wegen zwei gefangengenommenen Soldaten?

Dass das Massaker an den Palästinensern in Gaza 2008/2009 auch mit der Gefangennahme von Gilad Shalit begründet wurde, aber nicht nur? Dabei gab es bekanntlich 1400 getötete Palästinenser, darunter 400 Kinder und über 5000 Verletzte.
Dass die Belagerung von Gaza mit dem Argument aufrechterhalten wurde, dass der Soldat immer noch in der “Gewalt der Palästinenser“ war. Wie können diese Journalisten all das vergessen?
Dass die Palästinenser kein Militär, keine Panzer, Flugzeuge und Bomben haben so wie Israel. Israel, die Besatzungsmacht deshalb keine palästinensischen Soldaten verurteilt, sondern Zivilisten, aber vor Militärgerichten? Solange israelische Soldaten und ihre Vorgesetzten für ihre Verbrechen - z.B. in Gaza -nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wie im Goldstone-Bericht gefordert, ergibt sich durch palästinensische Taten immer ein falsches Bild. Denn nur über diese wird zum Beispiel auch heute als Ausdruck von Gewalt gesprochen.
Was denken diese Journalisten über den israelischen Piloten, der 2002 eine    Bombe auf einen Häuserkomplex in Gaza abwarf, um einen einzelnen Menschen     zu ermorden, wobei auch viele Frauen und Kinder getötet und verletzt wurden,     der von israelischen Politikern dafür gelobt wurde und als der Pilot gefragt wurde, was er dabei gefühlt habe, antwortete er: Nur ein kurzes Ruckeln des Flugzeuges?
Wenn sich diese Journalisten nun alle diese Fragen stellen und selbst beantworten  würden, könnten sie auch darüber schreiben, wann es in der ganzen Region Frieden  geben wird.
Bis dahin werden wir das tun, was Felicia Langer als Titel ihres letzten Buches
.wählte: "Um Hoffnung kämpfen"!
Dr.Ahmad Muhaisen

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