Montag, 18. Januar 2010

Offener Brief

Offener Brief an die Bundeskanzlerin

Frau Dr. Angela Merkel

Sehr geehrte Frau Kanzlerin Merkel,

wir wenden uns heute aus Anlass der gemeinsamen Kabinettsitzung von israelischen und deutschen Politikern am 18. Januar 2010 mit der Bitte an Sie:

Nutzen Sie die Gelegenheit von diesen – wie wir vermuten – vertraulichen Gesprächen und machen Sie den israelischen Politikern Ihren Willen, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen, deutlicher, als Sie es in der Vergangen-weit getan haben.

Grundsätzlich schließen wir uns dem Aufruf zum Protest gegen diese Gespräche auf Regierungsebene an, ebenso den darin genannten Forderungen, der von vielen Gruppen und Einzelpersonen getragen wird. Wir meinen, dass die Gefahr besteht, dass sich die israelischen Politiker aufgewertet fühlen könnten.

Bis zur Stunde ist uns nicht bekannt, wer an diesen Regierungsgesprächen teilnehmen wird.

Wenn Sie sich nun aber entschieden haben, trotz der israelischen Politik seit Ihrem Besuch in Israel im März 2008 an den vereinbarten Kabinettsitzungen festzuhalten, so glauben wir, müssten folgende Themen unbedingt zur Sprache kommen:

Die Wahrheit über das Massaker an der Bevölkerung von Gaza bei dem dreiwöchigen Bombardement vom 27. Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009. Wie dieser Überfall auf eine durch Belagerung eingeschlossene Bevölkerung verübt wurde, mit welchen Waffen, mit welcher Grausamkeit und systematischen Zerstörung, steht im Goldstone-Bericht, der auf Englisch im Internet zu lesen ist und seit gestern mit einem ersten Teil auf Deutsch vom Melzer-Verlag übersetzt vorgestellt wurde. Wir wissen, dass Sie intern den Goldstone-Bericht diskutiert haben müssen, denn leider wurde die Verabschiedung des Berichts

in der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 5. November 2009 von Deutschland nicht mitgetragen, was uns sehr enttäuscht hat. Damit hat die deutsche Regierung zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht an der Bestrafung von israelischen Kriegsverbrechern interessiert ist, nicht einmal, dass Israel eine eigene, unabhängige Kommission bilden sollte, wie im Goldstone-Bericht empfohlen, um die Kriegsverbrechen zu ahnden. Da Israel bis heute den Inhalt des Goldstone-Berichts weder zur Kenntnis nehmen will noch die Vorwürfe untersucht, müssten Sie ein Interesse daran haben zu erfahren, warum dies so ist.

Denn auch Ihnen, Frau Kanzlerin, ist sowohl während Israels Krieg gegen den Libanon 2006 als auch während der Bombardierung von Gaza – und das sind nur zwei Beispiele – von politisch verantwortlichen israelischen Politikern nicht die Wahrheit gesagt worden. So wie auch Präsident Erdogan von Ministerpräsident Olmert zwei Tage vor dem Bombardement belogen wurde, als Präsident Olmert in der Türkei war wegen der türkischen Vermittlung bei Friedensverhandlungen zwischen Israel und Syrien. Präsident Erdogan bot sich an, nach diesen kurz vor dem Erfolg stehenden Friedensgesprächen auch zwischen Israel und der Hamas zu vermitteln. Wie ungehalten Präsident Erdogan auf diese israelische Politik der Unwahrheit und der militärischen Aggression gegen Gaza reagiert hat, wissen wir seit der Tagung in Davos. Die türkische Empörung machte sich in einer ausführlichen Berichterstattung über Gaza in den türkischen Medien Luft und führt bis heute zu öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten. Jüngstes Beispiel war die Behandlung des türkischen Botschafters in Israel.

Die deutschen Medien folgten während der Zerstörung von Gaza zu einem sehr großen Teil der israelischen Kriegspropaganda, obwohl die Wahrheit z.B. durch arabische und türkische Fernsehsendungen täglich zu erfahren war. Viele ausländische Journalisten standen im Gegensatz dazu im Süden Israels an der Grenze zu Gaza und bedauerten, nicht direkt berichten zu können.

Dass Israel bis heute an einer Kollektivbestrafung der Bevölkerung von Gaza festhält durch die immer noch andauernde Belagerung, die Nichtversorgung von Schwerverletzten auch in anderen Ländern, die Verweigerung eines Wiederaufbaus, dass Israel fast täglich wieder Angriffe auf Gaza fliegt, mit Raketen gezielt Menschen tötet, auch den Luftraum des Libanons mit Militärflugzeugen durchbricht, könnten Sie bei Ihren Gesprächen thematisieren.

Kann man sich die ständige Angst der bereits traumatisierten Menschen durch immerwährende Kriegsbedrohung überhaupt vorstellen?

Sicherlich haben Sie den Aufruf von palästinensischen Christen – eher als Schrei nach Frieden zu bezeichnen – kurz vor der Weihnachtszeit gelesen. Er ist ein zutiefst menschlicher, immer noch auf Versöhnung mit der israelischen Seite ausgerichteter Appell, mit der Politik der Zerstörung aufzuhören und einen gerechten Frieden anzustreben. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Appell als Grundlage Ihrer Gespräche nutzen könnten. Es gäbe viele andere Dokumente und UNO-Resolutionen als Vorschläge für einen Frieden, sie alle liegen seit Jahren auf dem Verhandlungstisch und werden von der israelischen Seite nicht genutzt.

Das zweite große Thema ist die deutsche Militärhilfe an Israel. Seit Jahren ist es wie selbstverständlich, dass Israel offiziell oder auch geheim deutsche Waffen erhält. Obwohl nach deutschen Gesetzen keine Waffen in Kriegsgebiete geschickt werden dürfen, kennen wir kein offizielles „Nein“ aus deutschem Mund zu israelischen Rüstungswünschen. Häufig erhält Israel sogar Waffen oder U-Boote vom deutschen Staat geschenkt.

Aus dem Tagesspiegel von heute, dem 17. Januar, entnehmen wir, dass Israel ein sechstes Dolphin-U-Boot und möglicherweise auch zwei hochmoderne Raketenabwehrkorvetten bestellen möchte. Wir lesen: „… Seit Helmut Kohl Israel 1991 die Lieferung von drei Dolphin-U-Booten zusagte, ist sogar die Lieferung von vollständigen Kriegswaffen an den Staat im nahöstlichen Krisengebiet kein Tabu mehr. Mit rund 900 Millionen Euro hat die Bundesrepublik seither die Beschaffung von fünf Dolphin-U-Booten durch Israel direkt aus dem Bundeshaushalt subventioniert. Indirekt floss noch mehr Geld, da die Bundeswehr verstärkt in Israel einkaufte und damit Israel Devisen beschaffte, die es für die U-Boote verwenden konnte. Hinzu kommt: Die Baugenehmigung für das sechste Israel-U-Boot hat die Bundesregierung bereits am 8. Mai 2006 erteilt.“

Wir sehen auf das Datum, der 8. Mai ist auch der Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Soll das die Lehre aus diesem verheerenden Krieg sein?

Weiter heißt es im Tagesspiegel: „… Befürchtet wird, dass Jerusalem die Boote bei einem Angriff auf die Atomanlagen des Irans einsetzen könnte. Israel tut wenig, um solchen Befürchtungen entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Es spielt mit ihnen im Rahmen der psychologischen Kriegsführung. So durchfuhr im Sommer letzten Jahres ein Dolphin-U-Boot den Suezkanal, um Übungen im Roten Meer durchzuführen. Israel weckte damit Befürchtungen, es werde eine kontinuierliche Präsenz seiner U-Boote in der Golfregion anstreben, sobald es aus Deutschland 2010/2011 erstmals Dolphin-U-Boote mit Brennstoffzellenantrieb erhalten hat. Die haben eine größere Reichweite…“ Von der Hamburger Werft Blohm & Voss erhofft sich Israel größere Korvetten, in die modernste israelische und amerikanische Hochtechnologie integriert werden kann, mit der Israel einen eigenen Beitrag zu den Raketenabwehrplänen der USA im Nahen Osten leisten kann. So heißt es weiter im Tagesspiegel. „Abwehr“ bedeutet Verteidigung, aber Israels militärische Taten sind Angriffe wie auf Gaza, auf Libanon, auf Syrien, auf den Irak und die verbalen Attacken wie auf den Iran oder heute erst auf Syrien.

Wir bitten Sie, den israelischen Gesprächspartnern klarzumachen, wohin eine solche Politik führen könnte. Die deutsche und europäische Politik kennt viele historische Beispiele.

Wir wissen, dass sich die Bundesregierung mit Geheimverhandlungen um die Freilassung einiger unserer 11.000 Gefangenen im Austausch gegen einen einzigen israelischen Soldaten bemüht, dessen Namen die ganze Welt kennt im Gegensatz zu den Namen der Kinder, Jugendlichen, Frauen und Männer, bekannte unschuldige Politiker oder unbekannte Unschuldige in israelischen Gefängnissen. Wir sind sehr dankbar für Ihre Bemühungen und hoffen und bangen mit den Familien der Gefangenen, dass diese bald nach Hause kommen, viele nach Jahren. Wir wissen auch, dass die israelische Seite immer wieder neue Bedingungen stellt, die die palästinensische Seite nicht erfüllen will wie zum Beispiel die Ausweisung mancher aus der Heimat oder die Verweigerung der Freilassung zum Beispiel von Marwan Barghouti.

Trotzdem bitten wir Sie, die israelische Seite auf ihre vielen Möglichkeiten, Frieden zu erreichen, hinzuweisen. Israel könnte die Mauer niederzureißen, Israel sollte Ägypten nicht zwingen, ebenfalls eine Stahlmauer an seiner Grenze zu Gaza zu errichten. Israel sollte sofort und bedingungslos die Belagerung von Gaza beenden. Israel sollte die Besatzung Palästinas beenden und einen palästinensischen gleichberechtigten Staat akzeptieren. Israel sollte auf seine Freunde hören.

Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen

Arabische und palästinensische Vereine in Berlin

Sonntag, 17. Januar 2010

Ein Jahr danach

Ein Jahr nach dem israelischen Massaker in Gaza

Trauer um die Opfer, Solidarität mit den Menschen in Palästina und Libanon. Wir wollen Kerzen anzünden für alle Opfer der israelischen Besatzungspolitik.

Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um an die Opfer des dreiwöchigen israelischen Bombardements auf die eingeschlossenen Palästinenser in Gaza vor einem Jahr zu erinnern: Ganze Familien wurden ausgelöscht, es gab über 1400 Tote und fast 6000 Verletzte, bis heute können viele nicht adäquat behandelt werden, dadurch starben bisher 370 Menschen. Es fehlt an Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln wie Rollstühle. Das israelische Militär zerstörte in einem 22 Tage dauernden Bombenhagel die gesamte Infrastruktur von Gaza, Wohnhäuser, Fabriken, Krankenhäuser, Schulen, Moscheen, das einzige Elektrizitätswerk und die Wasserversorgung.

Viele Augenzeugen berichteten uns über die heutige katastrophale Situation in Gaza, das weiterhin unter israelischer Belagerung ist, in das kein Baumaterial gelassen wird für einen Wiederaufbau, so dass viele Menschen nun einen zweiten Winter in Zelten verbringen müssen. Und anstatt dass die Grenzen endlich geöffnet werden, plant Ägypten eine kilometerlange Metallmauer an seiner Grenze zu Gaza, die bis zu 30 Meter tief in die Erde eingelassen werden soll. Dadurch werden die Menschen in Gaza noch hermetischer eingeschlossen sein. Schon heute nennen manche Gaza das größte Freiluftgefängnis der Welt.

Die Palästinenser haben ein schreckliches Jahr erlebt: Ob in Palästina oder im Exil, jeder hat auf seine Weise Leid erfahren wie so oft schon in unserem Leben: Entweder den Tod in der eigenen Familie oder von Freunden oder die dauernde Angst um die Lieben, wenn man weit weg in einem anderen Land lebt und mit dem Herzen „zu Hause“ bei den Leidenden sein will. Auch die Hilflosigkeit des Exils war manchmal fast unerträglich.

Aber es war auch ein Jahr, in dem wir von Menschen unserer zweiten Heimat viel Solidarität und Hilfe erhalten haben, nicht nur bei den großen Demonstrationen in Berlin, auch bei politischen und kulturellen Veranstaltungen, bei Ehrungen von Friedensstiftern, zum Teil – wenn auch viel zu selten – von Politikern und Journalisten. Viele Basisgruppen stehen an unserer Seite. Dafür wollen wir unseren Dank aussprechen. Besonders dankbar sind wir den internationalen Friedenskräften in Palästina, die sich an den friedlichen Demonstrationen in Dörfern wie Bil‘in und Nil’in beteiligen und von den gewalttätigen Übergriffen des israelischen Militärs berichten, von Verletzten und verhafteten Pazifisten, und lautstark ihre Freilassung fordern. Wir danken den Organisatoren der „free-Gaza-Boote“ von Zypern nach Gaza, die von der israelischen Marine beschossen und vorübergehend inhaftiert wurden. Sie planen, in diesem Jahr wieder mit Schiffen die Belagerung von Gaza zu durchbrechen. Wir danken den Teilnehmern des Friedensmarsches in Ägypten und dem Organisator des dritten Hilfskonvois „Viva Palestina“ für Gaza, George Galloway. Sie alle waren so mutig und haben erreicht, dass die Weltöffentlichkeit auf unser Unglück schaute und viele Menschen ein Ende der israelischen Besatzung forderten. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat den Juristen Richard Goldstone und sein Team mit der Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen und möglichen Kriegsverbrechen in Gaza beauftragt. Der 575-Seiten Bericht über das israelische Massaker in Gaza hat den Grundstein gelegt für eine mögliche Bestrafung der israelischen Kriegsverbrecher. Richard Goldstone und seinem Team gilt unser tief empfundener Dank. So wollen wir an diesem Wochenende hier in Berlin wie es auch an vielen anderen Orten auf der Welt geschieht, ein Ende der israelischen Besatzung in Palästina fordern, gegen die Mauer in Palästina und die zusätzliche Mauer an der ägyptischen Grenze nach Gaza protestieren. Wir protestieren gegen die tägliche Bedrohung durch israelische Kampfflugzeuge über Palästina und dem Libanon, durch die besonders die Jüngsten und die Ältesten in dauernde Angst versetzt werden. Wir fordern die Freilassung unserer fast 11.000 Gefangenen, darunter Frauen, Kinder und Jugendliche. Niemand wird vergessen, Ihr seid in unseren Herzen. Trotz allem wollen wir den Menschen in Palästina zurufen: Verzweifelt nicht, ihr seid nicht allein. Die Welt ist voller Hoffnung, auch für uns in Palästina.

Ab diesem Jahr werden die Palästinenser weltweit immer zwischen dem 13. und dem 19. Januar zum Gedenken an das Gaza-Massaker eine Palästina-Woche veranstalten.

Wir wollen gleichzeitig an die unglücklichen Menschen in Haiti denken und mit Kerzen auf diese furchtbare Naturkatastrophe hinweisen, die die Ärmsten der Armen erlitten haben. Sie wurden schon vorher in ihrer Armut von den Herrschern der Welt im Stich gelassen. Unser Mitgefühl gilt auch Ihnen in ihrem Leid.

Palästinensische und Arabische Vereinigungen in Berlin