Dienstag, 25. August 2009

Lesenwerter Artikel

Der Spiegel 35 2009 - Der Krieg der Deutschen (2009-08-24)

Gott kennt keine Kompromisse
s.92


Kaum jemals hatten es die Israelis so gut - sagen die einen. Kaum jemals waren die Chancen auf Frieden so schlecht - sagen die anderen. Premier Benjamin Netanjahu, diese Woche zum Antrittsbesuch in Berlin, hat den Judenstaat gespalten und legt sich offen mit dem Westen an. Von Erich Follath

Zur Abwechslung einmal etwas Überraschendes: gute Nachrichten aus dem Heiligen Land. Aber Vorsicht, was derzeit so positiv erscheint, könnte zu noch schlimmeren Katastrophen führen - dies ist schließlich der Nahe Osten.

Die Strände von Tel Aviv sind voller Touristen, die Hotels in Jerusalem ausgebucht, in den ersten beiden Augustwochen verzeichnet Israel Besucherrekorde. Eine robuste Wirtschaft ist in diesem Quartal wieder ins Plus geschwenkt. Noch entscheidender aber: Es herrscht Ruhe an fast allen Fronten. Kaum noch Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen, so gut wie keine palästinensischen Terrorüberfälle aus dem Westjordanland, auch an der Libanon-Grenze schweigen die Waffen.

Die Palästinenser sind mit sich selbst beschäftigt - und mit der Vertiefung ihrer eigenen politischen Spaltung. Gerade ist in Betlehem der Kongress der gemäßigten Fatah zu Ende gegangen, die im Westjordanland regiert. Die Fatah konnte nicht über ihren Schatten springen und Israel unmissverständlich anerkennen. Stattdessen vor allem rückwärtsgewandte Politik bei jüngerem Personal; die fast ein halbes Jahrzehnt zurückliegende "Ermordung" Jassir Arafats durch die Israelis soll abermals untersucht werden.

Die radikalislamische Hamas, die im Gaza-Streifen herrscht, macht gar kein Hehl daraus, dass sie die Fatah als Gegner und Israel als Todfeind sieht. Sie ist in diesen Tagen allerdings vollauf damit befasst, auf ihrem Gebiet konkurrierende, dem Terrornetzwerk al-Qaida nahe Extremisten blutig niederzuschlagen.

Vielen Israelis kommt es so vor, als nähme sich der Nahost-Konflikt eine Auszeit, als könnten sie sich einigermaßen bequem einrichten im Status quo - und sie rechnen das der Hardliner-Regierung unter Benjamin Netanjahu, 59, als Verdienst an. Seit knapp fünf Monaten ist der Umstrittene an der Macht, zum zweiten Mal Ministerpräsident, seine Amtszeit von 1996 bis 1999 gilt als wenig glanzvoll. Aber derzeit ist "Bibi" populär, Kompromisslosigkeit hat Saison. Und so reist er mit viel Rückendeckung zu Gesprächen mit den Verbündeten. Am Montag trifft er in London George Mitchell, den Nahost-Beauftragten der US-Regierung, am Mittwoch wird er in Berlin erwartet.

Mitglieder seines 30 Minister starken Kabinetts und eine erzkonservative Presse hämmern in diesen Tagen eine verführerische Botschaft: warum schmerzliche Kompromisse mit den Palästinensern eingehen, warum überhaupt in Friedensverhandlungen eintreten, wenn es auch so Ruhe gibt? Warum die illegalen Siedlungen aufgeben oder auch nur den Ausbau stoppen, wie es Präsident Barack Obama fordert, wenn doch keine Sanktionen drohen und man für alle Fälle ein zusätzliches Faustpfand hat? Warum nicht die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee beim Gaza-Krieg zum Jahreswechsel, verurteilt durch die Uno, einfach ignorieren?

Noch ist eine Mehrheit der Israelis für einen Ausgleich mit den Arabern zu gewinnen, für eine von der internationalen Gemeinschaft geforderte Zwei-Staaten-Lösung. Aber der Palästinenserstaat an der Seite Israels soll so aussehen, wie ihn Netanjahu im Juni skizziert hat, als er das Konzept erstmals öffentlich akzeptierte: ohne eigene Armee, ohne Kontrolle über seinen Luftraum, ohne Rückkehrrecht für alle Palästinenser, ohne Jerusalem, das "die ungeteilte Hauptstadt Israels" bleiben müsse. Man brauche diese "Konzessionen" nicht zu fürchten, erläuterte Vater Benzion Netanjahu, 99, ein Ultra der ersten Stunde und immer noch einer der engsten Berater des Premiers, jetzt mit entwaffnender Offenheit: Die Bedingungen seien so gefasst, dass die Palästinenser gar nicht einschlagen könnten.

Wenn Netanjahu diese Woche ins Kanzleramt kommt, muss er nicht mit peinlichen Überraschungen wie neulich in Paris rechnen, als der französische Präsident alle diplomatischen Gepflogenheiten beiseite ließ und vor Zeugen Klartext redete: Netanjahu solle seinen für rassistische Sprüche berüchtigten Außenminister Avigdor Lieberman entlassen. "Es gibt kaum einen führenden Politiker, der nicht sagt: Was ist das denn für eine hirnrissige Ernennung?" Als Israels Premier sich die Einmischung verbat und davon sprach, Lieberman sei nicht nur ein "wichtiges Mitglied einer gewählten Regierung", sondern auch ein "sehr netter Mensch", legte Frankreichs Präsident nach. Nicolas Sarkozy verglich Israels Außenminister mit dem Rechtsaußen seiner Heimat: "In privaten Gesprächen kann auch Jean-Marie Le Pen ein richtig netter Typ sein."

Die Bundeskanzlerin hält wegen der deutschen Geschichte jede harte Kritik an Israel für unangemessen; in ihrer Knesset-Ansprache 2008 mochte sie die illegale Siedlungspolitik nicht einmal mahnend erwähnen - zur Verärgerung der israelischen Linken und auch der EU, deren gemeinsame Linie sie verließ. Deutschland gilt in Jerusalem als treuester Verbündeter. Die USA, die Israel mit Milliarden subventionieren, als derzeit unbequemster: Obama pocht auf substantielle israelische Konzessionen, um sich in der islamischen Welt als ehrlicher Vermittler zu profilieren.

Wo aber verlaufen die Bruchlinien innerhalb der israelischen Gesellschaft?

Dan Meridor, 62, und Tom Segev, 64, gehören beide zur israelischen Elite. Sie sind beide Patrioten und haben, wie schon ihre Väter, an herausragender Position für ihr Land gekämpft. Sie leben und arbeiten beide in Jerusalem und respektieren einander. Und doch kommen Geheimdienstminister Meridor, in den Augen vieler Israelis Netanjahus bester Mann, und Schriftsteller Segev, in den Augen vieler Israelis ihr bester Historiker, zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen - was Premier Netanjahu und seine Absichten anbetrifft, was die derzeitige Lage und die Zukunft des Landes angeht.

Meridor empfängt in seinem Arbeitszimmer im Regierungssitz, an der Wand ein Landschaftsfoto im milden Licht des Sonnenuntergangs. Nichts Militärisches, nichts Förmliches: Der Politiker, der an Schwedens unglücklichen Premier Olof Palme erinnert, gibt sich hemdsärmlig. Sanft ist auch seine Stimme, kaum zu glauben, dass dieser Meridor, studierter Jurist und Feingeist, im Sechstagekrieg Panzerkommandant war. "Prinz der Prinzen" nannte Israels Presse ihn. Als ihn Netanjahu in seinem ersten Kabinett 1996 zum Finanzminister machte, schien für Meridor auch der Sprung nach ganz oben möglich. Die Ernüchterung kam nach einem Jahr: Er überwarf sich mit dem Premier, der ihm hinter den Kulissen übel mitgespielt hatte, und trat zurück.

Heute unterstehen Meridor sämtliche Geheimdienste Israels. Er ist Vizepremier und gehört zum "Küchenkabinett" Netanjahus, das jede wesentliche politische Entscheidung im Land absegnet. Warum dieser zweite Versuch, hat sich der Premier gewandelt? Womit muss die Welt angesichts der kriegsdrohenden Netanjahu-Äußerung rechnen, der einzige Unterschied zwischen Adolf Hitlers und Mahmud Ahmadinedschads Regime bestehe darin, "dass Nazi-Deutschland erst einen Weltkrieg begonnen und dann Atomwaffen entwickelt hat, während Teheran erst Atomwaffen entwickelt und dann einen globalen Konflikt beginnt"?

Minister Meridor sieht die nukleare Bedrohung als das alles überlagernde Problem der israelischen Regierung. Er glaubt aber nicht, dass Netanjahu die Entscheidung zu einem Militärschlag gegen Irans Nuklearanlagen schon getroffen hat, wie es die Tageszeitung "Haaretz" erfahren haben will. "Zunächst setzen wir auf die Verschärfung der Sanktionen gegen Teheran und rechnen damit, dass die wichtigen europäischen Wirtschaftspartner Irans, allen voran Deutschland, dabei konsequent mitmachen." Niemals aber dürfe Iran zur Atommacht werden - sonst sei die Machtbalance im Nahen Osten dramatisch verändert, der Atomwaffensperrvertrag am Ende, Israels Existenz gefährdet.

Die Gefahrenlage im Nahen Osten sieht Meridor durch ein relativ neues Phänomen zugespitzt: die "Einführung der Religion in den Konflikt". Arabische Führer hätten Israel gehasst und bekämpft, aber niemals im Namen Allahs; erst durch die iranische Führung und deren Unterstützung für die Hisbollah und die Hamas sei fatalerweise der Allmächtige ins Spiel gekommen. "Menschen können Kompromisse schließen, Götter nie."

Aber verlangt Obama nicht zu Recht auch ein Zeichen der Kompromissbereitschaft von Israel - und sieht sich mit ständig neuen Provokationen konfrontiert? Etwa mit der Bemerkung des Wissenschaftsministers Daniel Herschkowitz, einige Handlungen des US-Präsidenten "grenzten an Antisemitismus", und wenn die Siedlungen Washington so störten, müsse man sie eben heimlich vorantreiben?


"Es ist eine große Regierung mit unterschiedlichen Meinungen", sagt Meridor. Entscheidend aber sei Netanjahu, den er als gereift und auch zu schmerzlichen Schritten bereit sieht. Er selbst sei früher skeptisch gegenüber einer Zwei-Staaten-Regelung gewesen, plädiere aber seit über 15 Jahren für das Konzept.

Über genaue Grenzziehungen könne man reden, aber wenn den Palästinensern das territoriale Angebot nicht reiche, Pech gehabt. "Menschen wollen die Realitäten nicht erkennen. Sie hassen die Wirklichkeit, wenn sie ihren Erwartungen nicht entspricht." Das Problem mit der Fatah sei, dass sie "nicht liefern" könne, ob aus Schwäche oder ob sie nicht wolle, spiele für Israel letztlich keine Rolle. "Uns fehlt der Friedenspartner."

Dass Meridors politische Karriere an der Seite Netanjahus - und in dessen Schatten - endet, erscheint wahrscheinlich. Gern erzählt er im Freundeskreis die Geschichte von Adlai Stevenson, dem als Präsidentschaftskandidat gescheiterten US-Politiker. "Er erhielt bei einer Rede einmal besonders viel Beifall, jemand aus dem Publikum rief: Machen Sie sich keine Gedanken, jeder anständige Amerikaner wird Sie wählen - worauf er entgegnete: Wenn das so ist, bin ich wirklich besorgt, ich brauche eine Mehrheit." Parallelen zum heutigen Israel nimmt er lächelnd in Kauf.

Minuten nach dem Ende des Interviews meldet sich der Minister noch einmal beim SPIEGEL. Er will klarstellen, dass er den Status quo nicht für ideal halte. Man müsse ihn "überwinden, aber dabei die Lektionen der Geschichte berücksichtigen". Zwei Stunden hat Meridor so geklungen wie ein Hardliner, nun möchte der als "gemäßigt" Geltende offensichtlich kein allzu radikales Bild hinterlassen - ein Zerrissener zwischen eigenen Ansprüchen und Netanjahus harter Politik. Und damit ein wenig auch ein Spiegelbild der Zerrissenheit des gesamten Landes.

Autor Segev ("1967") arbeitet keine drei Kilometer Luftlinie von Meridor. Aus seiner Wohnung im sechsten Stock lassen sich die Wahrzeichen von Jerusalem betrachten - die historische Mauer, welche die Altstadt seit Jahrhunderten umschließt, die neue Mauer, die Israel als Sicherheitsmaßnahme gebaut hat und immer noch weiter baut. Wie eine giftige graue Viper schlängelt sie sich über die Hügel. Was gegen Terroristen hilft, ist auch ein schlichter Landraub: Israel hat für den Bau der Sperranlagen über 12 000 Hektar Äcker konfisziert, 83 000 Olivenbäume gefällt, 36 Siedlungen zerschnitten.

Segevs Eltern sind aus Nazi-Deutschland geflohen, sein Vater starb im Krieg 1948. Der Historiker gilt als Linksliberaler, er steht der Friedensbewegung nahe, von der kaum noch etwas zu hören ist. "Peace Now" wurde von Strategieminister Mosche Jaalon gerade als "Virus" diffamiert. Segev zuckt mit den Schultern. "Netanjahus Regierung hat Israel eingeschläfert, hat der Nation die Illusion vermittelt, es sei schon alles so in Ordnung, wie es derzeit ist", sagt er. "Die meisten Israelis glauben nicht mehr an einen Friedensprozess. Sie haben sich arrangiert. Sie denken, wenn sich etwas ändert, wird es schlimmer." Auch er selbst habe sich gewandelt, könne die resignative Haltung nachvollziehen.

"Noch mehr macht mir zu schaffen, dass in Israel Intoleranz und Rassismus gesellschaftsfähig geworden sind", sagt der Humanist und lauscht dabei melancholisch seinen Sätzen nach. Außenminister Liebermans Partei schüre den Fremdenhass, gegenüber den Arabern insgesamt, aber besonders auch gegenüber den palästinensischen Staatsbürgern Israels.

Aber da gäbe es noch andere, etwa Ehud Barak. Früher hat er sich mit der Lebenssituation der Araber beschäftigt und einmal formuliert: "Hätte ich in einem palästinensischen Flüchtlingslager aufwachsen müssen, wäre ich wohl Terrorist geworden." Jetzt, als Verteidigungsminister im Kabinett Netanjahu, hat er gerade im muslimischen Viertel der Altstadt provozierend eine neue Synagoge eingeweiht - und arabische Proteste weggewischt wie lästige Fliegen. Symbolisiert der Chef der Arbeitspartei den Niedergang, den Zynismus der einstigen Linken?

Segev glaubt, dass die meisten Israelis die Führer aller Parteien für korrupt halten. "Zur Friedensskepsis kommt Politikverachtung", sagt er. Besonders bedrückt ihn "die Gleichgültigkeit der Israelis gegenüber den Palästinensern", die Unfähigkeit, sich in deren Situation hineinzuversetzen. "Es interessiert niemanden mehr, was in den besetzten Gebieten passiert. Wir verdrängen es. Und das, obwohl eigentlich alle wissen, dass die fortdauernde Besatzung am Ende eine selbstmörderische, zukunftszerstörende Politik ist."

Der Historiker hat Netanjahu über die Jahre genau verfolgt. Er glaubt, dass der Premier in der Siedlungsfrage den Amerikanern kleinere Konzessionen machen könnte. Aber grundsätzlich werde sich an Netanjahus Politik nichts ändern. "Er lebte lange in den USA. Er hat ein genaues Gespür dafür, dass Obamas Druck auf Israel nachzulassen beginnt, dass der neue US-Präsident womöglich nicht in einer so starken Position ist."

In einem Punkt werde der israelische Premier auf jeden Fall hart bleiben: bei der Beendigung des vermuteten iranischen Atomwaffenprogramms. Dabei wisse er fast alle Israelis hinter sich. "Natürlich ist die Furcht vor einem neuen Holocaust instrumentalisiert worden - aber die Vernichtungsängste sind echt. Wer das nicht versteht, der versteht Israel nicht."

Segev klingt skeptisch, fast resigniert. Gar kein Hoffnungsschimmer am Horizont? Doch, sagt er: Marwan Barghuti. Wegen dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, sitzt der Palästinenserführer seit 2002 in einem israelischen Gefängnis. Er soll sich dort aber immer mehr gemäßigt und zum Friedensapostel entwickelt haben. Barghuti, 50, wurde beim Fatah-Kongress Anfang August mit den drittmeisten Stimmen aller Kandidaten ins Zentralkomitee gewählt.

Hat Segev wegen der terroristischen Vorgeschichte keine Bedenken? "Ach was, auch Menachem Begin und Jizchak Schamir waren früher Terroristen und wurden Ministerpräsidenten", sagt er. "Barghuti hat vielleicht das Zeug zu einem palästinensischen Nelson Mandela. Wir sollten uns trauen, ihn freizulassen."

In der Jerusalemer Altstadt werden schon heldenverehrende T-Shirts mit Barghutis Konterfei verkauft. Gedruckt hat das Hemd eine Firma aus dem israelischen Petach Tikwa. "In diesen Techniken ist der Feind einfach besser", sagt ein Händler.

Quelle:

Der Spiegel 35 2009 - Der Krieg der Deutschen (2009-08-24)

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