Dienstag, 27. Oktober 2009

Presse: Wir müssen Hamas einbinden

Der Ausbau israelischer Siedlungen gefährdet den Frieden, sagt Mustafa Barghouti, einflussreicher Politiker im Westjordanland. Er kämpft für eine Regierung der Einheit.


Mustafa Barghouti kämpft gewaltlos für seine großen Ziele: Einen eigenen Staat für die Palästinenser und Frieden mit Israel

ZEIT ONLINE: Herr Barghouti, der palästinensische Präsident Mahmud Abbas hat für den 24. Januar Wahlen angesetzt, obwohl er im Gaza-Streifen faktisch keine Regierungsgewalt ausüben kann. Was halten Sie davon?

Mustafa Barghouti: Nur im Westjordanland zu wählen, wäre ein Fehler. Im Gaza-Streifen leben rund 40 Prozent der Palästinenser – die dürfen nicht einfach ausgeklammert werden, das ist einfach unvorstellbar. Wir brauchen eine freie, faire Wahl, an der jeder Berechtigte teilnehmen darf. 2005 haben wir mit den dahin besten Wahlen in einem arabischen Land gezeigt, wie es geht. Unter diesen Standard dürfen wir nicht zurückfallen. Eine Wahl wie in Afghanistan, nach der die Regierung keinerlei Legitimität hat, müssen wir vermeiden.

ZEIT ONLINE: Hamas lehnte freie Wahlen bisher ab. Was macht sie optimistisch, dass die Partei sich das anders überlegen könnte?

Barghouti: Hamas braucht Garantien, dass sie sich auch nach einer verlorenen Wahl in das politische System einbringen kann und nicht vom Sieger an den Rand gedrängt und unterdrückt wird. Wir müssen Hamas einbinden.

ZEIT ONLINE: Gleichzeitig Wahlen im isolierten Gaza-Streifen und im Westjordanland abzuhalten, klingt nach einer Mammutaufgabe. Schaffen die Palästinenser das allein?

Barghouti: Wir werden massive Hilfe von außen, von den Vereinten Nationen und anderen, brauchen. Und Israel muss dazu gedrängt werden, wirklich freie Wahlen zu ermöglichen. Momentan ist es vom Westjordanland aus nicht möglich, direkt nach Gaza zu gelangen, umgekehrt auch nicht.

ZEIT ONLINE: Mit seinem Alleingang zeigt Abbas der Hamas die kalte Schulter. Wie zerrüttet ist das Verhältnis beider Parteien?

Barghouti: Die bewaffneten Kämpfe zwischen beiden Gruppen haben aufgehört. Aber im Westjordanland erlaubt die Fatah den Hamas-Aktivisten nicht, sich politisch zu betätigen und die Hamas benachteiligt die Fatah-Anhänger im Gaza-Streifen. Doch 2007 ist es uns gelungen, zwischen beiden Parteien zu vermitteln und gemeinsam eine Regierung der Einheit zu bilden. Das ist wieder möglich. In der Fatah und in der Hamas gibt es sehr viele vernünftige Leute.

ZEIT ONLINE: Momentan regiert die Fatah im Westjordanland, die Hamas im Gaza-Streifen. Um die großen Probleme zu lösen, fehlt beiden die Kraft. Was könnte eine geeinte Regierung leisten?

Barghouti: Nur eine Regierung der Einheit kann erfolgreich sein, ein schwacher Präsident nutzt ausschließlich Israel. Es gibt so viele Aufgaben. Wichtig ist, dass das israelische Apartheid-System beendet wird und die Palästinenser die Kontrolle über das Westjordanland und den Gaza-Streifen erhalten. Denn beide Gebiete stehen eigentlich immer noch unter israelischer Militärherrschaft. Die Israelis kontrollieren fast alle Straßen, überall gibt es Checkpoints und Kontrollen, sie bewachen die Grenzen, die See und den Luftraum.

ZEIT ONLINE: Halten sie es wirklich für möglich, dass mit der Hamas die Bildung einer demokratischen Regierung möglich ist?

Barghouti: Ja, auch innerhalb der Hamas gibt es zahlreiche Politiker, die Demokratie wollen. Sie finden aber in der Hamas ebenso wie in der Fatah auch Leute, die glauben, dass ihnen die Palästinenser-Gebiete gehören. Wenn im Westjordanland die Zugehörigkeit zur Fatah darüber entscheidet, ob jemand eine öffentliche Anstellung, etwa als Krankenschwester bekommt, dann ist das beschämend. Und im Gaza-Streifen sieht es genauso aus. Klientelismus und Korruption sind große, aber keine unlösbaren Probleme.


ZEIT ONLINE: In Deutschland nimmt nun eine neue Regierung ihre Arbeit auf. Was erwarten Sie von der deutschen Außenpolitik?

Barghouti: Wir erwarten, dass die deutsche Regierung und die internationale Staatengemeinschaft endlich ihre Verantwortung für die Palästinenser erkennen und sehen, wie riskant die Lage in den palästinensischen Gebieten ist. Der fortschreitende Bau der israelischen Siedlungen im Westjordanland lässt die Chance für eine Zwei-Staaten-Lösung schwinden. Die israelische Regierung verspielt die Möglichkeit für einen echten Frieden. Sie verhält sich so, als ob sie über dem internationalen Recht stehen würde – dass darf die Staatengemeinschaft nicht akzeptieren.

ZEIT ONLINE: Nach all den Jahren der Konflikte, Terroranschläge durch palästinensische Gruppen und Militärangriffe der Israelis – glauben Sie überhaupt noch an den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern?

Barghouti: Ja, denn ich bin Optimist. Die Zwei-Staaten-Lösung liegt im Interesse der Palästinenser und der israelischen Bevölkerung. Ich sehe nur drei Wege für uns Palästinenser, einen eigenen Staat zu erreichen. Der eine wäre ein militärischer Kampf. Die meisten Palästinenser lehnen aber wie ich Gewalt ab und die israelische Armee ist uns zudem weit überlegen. Der zweite Weg ist friedlicher Protest und die Suche nach Kompromissen. Das tun wir bereits, doch das reicht nicht aus. Es fehlt die internationale Unterstützung und Solidarität. Und das sehe ich als dritten Weg: Palästinenser, die Vereinten Nationen, USA und Europa streben gemeinsam für einen Stopp der israelischen Siedler und die Gründung eines Palästinenserstaates.

ZEIT ONLINE: Die Israelis verteidigen ihre harten Maßnahmen gegenüber den Palästinensern mit dem großen Bedürfnis nach Sicherheit ...

Barghouti: ... Israel ist sicher, die Existenz ist nicht bedroht. Die Israelis haben Frieden mit Ägypten und mit Jordanien, mit Syrien betreiben sie einen Dialog und die Palästinenser sind doch keine Gefahr für den mächtigen Staat Israel. Die Israelis begründen ihr Bedürfnis immer noch mit dem Holocaust. Das war ein grässliches Verbrechen, das niemand infrage stellen sollte. Doch nun werden die Palästinenser Opfer der Opfer. Es ist mit nichts zu rechtfertigen, dass die Palästinenser unter der Besatzung und der Apartheid leiden.

ZEIT ONLINE: Apartheid steht für die Unterdrückung der Schwarzen im früheren weißen Südafrika. Was meinen Sie, wenn Sie den Begriff für die Situation der Palästinenser verwenden?

Barghouti: Wenn Europäer sich die Details ansehen, auf das Alltagsleben der Palästinenser blicken, sind sie geschockt. Die Israelis kontrollieren 80 Prozent unseres Wassers. Wir sind verpflichtet, unsere Elektrizität zum überhöhten Preis in Israel zu kaufen. Und wir dürfen unsere Hauptstraßen nicht benutzen, sie sind dem israelischen Militär und den Siedlern vorbehalten, ebenso unsere größeren Häfen. Ich bin Arzt, Mitglied des Parlaments und ehemaliger Minister, aber wenn ich die falschen Wege benutze, kann ich für sechs Monate im Gefängnis verschwinden. Und ich darf meine Geburtsstadt Jerusalem nicht besuchen.

ZEIT ONLINE: Warum nicht?

Barghouti: Selbst als hochrangige Vertreter der EU mich in Ostjerusalem treffen wollten, haben mir die israelischen Behörden verboten, dorthin zu fahren. 20 Mal habe ich beantragt, meine Heimatstadt besuchen zu dürfen. Meine Schwester lebt dort, ich kann sie nicht treffen. Mein Schicksal gleicht dem von tausenden anderen Palästinensern. Selbst Ehepartner dürfen ihre Frau oder ihren Mann nicht in Ostjerusalem besuchen. Der Partner kann aber auch nicht in das restliche Westjordanland ziehen, weil er sonst seine Aufenthaltsberechtigung für Jerusalem verliert. Israelis hingegen können sich aussuchen, wo sie wohnen wollen – auch im Westjordanland in einer Siedlung. Das ist Apartheid.

Mustafa Barghouti ist Abgeordneter im palästinensischen Legislativrat. Er trat 2005 bei der Präsidentenwahl in den Palästinensischen Autonomiegeibieten an und erhielt die zweitmeisten Stimmen. Er gehört weder der Hamas noch der Fatah an und steht für einen dritten palästinensischen Weg. Barghouti war auf Einladung der Körber-Stiftung in Deutschland.

Die Fragen stellte Hauke Friederichs.


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